Manchmal beschäftigt man sich mit einem Thema und plötzlich scheint es in aller Munde zu sein. So geht es uns im betterplace lab gerade mit Deep Democracy. Als die Organisationsentwicklerin und Facilitatorin Ina Zukrigl-Schief uns anbot, innerhalb der co:lab X Reihe einen Abend dazu zu gestalten, hatten zwar einige aus dem Team schon mal von Deep Democracy gehört. Aber so richtig in Berührung gekommen war noch keine*r von uns damit. Wir hatten große Lust, diese Methode auszuprobieren. Und weil es nicht nur uns so ging, war der Erfahrungsabend mit der Schweizer Musikerin Magdalena Schatzmann, die am Deep Democracy Institut als Facilitatorin ausgebildet wurde, drei Tage nach Ankündigung schon ausgebucht. Seitdem treffen wir alle Nase lang Leute, die gerade auch mit Deep Democracy ihre Erfahrungen gemacht haben oder ganz heiß darauf sind.
Am Abend des 22. März sollten wir nun also schlauer werden. Ca. 25 Leute fanden sich im großen Besprechungsraum unseres Büros ein – einige davon neugierig, was sich hinter Deep Democracy verbirgt, andere schon große Fans von diesem Ansatz der Prozessarbeit. Dass die Wissensstände recht unterschiedlich waren, wurde spätestens offensichtlich, als es nach einem theoretischen Input von Magdalena Schatzmann und Ina Zukrigl-Schief daran ging zu schauen, was in der Suppe ist. Keine Sorge, einen kulinarischen Abend habt ihr nicht verpasst. Mit dem von Quantenphysiker David Bohm geprägten Bild der “Suppe”, in der alle denkbaren Informationen als Quant, Impuls, Ladung und Energiepaket jederzeit abrufbar vorhanden sind, veranschaulichte Magdalena Schatzmann in ihrer Einführung den in der Prozessarbeit zentralen Feldbegriff. Danach erhält die “Suppe” ihre Zutaten von drei Ebenen: Auf der Ebene der “Alltagsrealität” gestalten wir unsere Interaktionen und das Miteinander. Auf der Ebene der “Traumrealität” erfahren wir im Feld verschiedene Rollen, nehmen z.B. die Position der Geschäftsführung ein oder erleben uns als Friedensstifter*in. Auf der “Essenzebene” kommt alles ins Feld, was noch nicht sichtbar ist.
Wenden wir nach ein paar Google-Abfragen die “Suppen”-Metapher auf die Theorie hinter Deep Democracy an, dann bildet neben Quantenphysik Carl Gustav Jungs analytische Psychologie die Grundlage, die angereichert wird mit Denkweisen aus Daoismus, Schamanismus und Alchemie. Zu guter Letzt macht moderne Kommunikations- und Feldtheorie die Suppe zu einer feinen Bowl. (Bowl = mehr oder weniger feste Mahlzeit, die es an jeder besseren Berliner Straßenecke gibt). Ist es selektive Wahrnehmung, dass die hippe Start-Up-Szene Deep Democracy gerade jetzt ausprobiert? So neu ist diese Methode schließlich gar nicht. Dr. Arnold Mindell hat Deep Democracy 1986 zum ersten Mal beschrieben und falls euch das Buch “The leader as martial artist: an introduction to deep democracy” für den Anfang zu viel ist, gibt es ein einstündiges Interview, in dem der Physiker und Psychologe diesen Ansatz erklärt.
Ein grobes Thema für den Abend war vorgegeben. Es sollte um Unausgesprochenes und verborgene Konflikte gehen, die in einer New Work-Arbeitswelt auftreten. Die Annahme: Auch in Arbeitskontexten jenseits klassischer Hierarchien entstehen Spannungen aufgrund von Rangunterschieden und verschiedenen Rollen.
Nach einer Einführung durch Magdalena Schatzmann gingen die Teilnehmenden jeweils zu zweit in den Austausch zu eigenen Erfahrungen mit Machtdynamiken in New Work Teams und Unternehmen mit flachen Hierarchien. Anschließend wählten die Anwesenden aus der dabei entstandenen Themensammlung eine konkrete Fragestellung für diesen Abend aus.
Und dann wurde es dynamisch. Nachdem der Fallgeber seine Frage vorgetragen hatte und die ersten Rollen identifiziert waren, war die “Manege” frei. Jede*r konnte dem eigenen Impuls folgen, aufstehen und aus einer Rolle heraus sprechen. Eine Person repräsentierte die Geschäftsführung einer NGO mit flachen Hierarchien und nacheinander gesellten sich Mitarbeitende hinzu. Ein Schlagabtausch begann. Rasch wurde ein großes Problem sichtbar: die gesetzlich vorgeschriebene Arbeitszeiterfassung. An diesem Thema entlud sich der Ärger über Zwänge, das System, die Macht des Kapitals, den Polizeistaat, etc. Die Stimmung lud sich mehr und mehr auf. Es wurde laut. Schimpfworte flogen durch den Raum. Auf kurze Momente der Entspannung, sogenannte “cool spots" folgten erneut Vorwürfe und laute Stimmen.
In der anschließenden Reflexionsrunde kehrte Ruhe ein. Es wurde die Überraschung darüber deutlich, dass sich fast ausschließlich laute Stimmen durchgesetzt hatten. Und einige äußerten, dass sie sich aufgrund der Heftigkeit nicht getraut hatten, in die Mitte zu treten und zu sprechen. Die Wahrnehmung dieses aktiven Teils des Abends war sehr unterschiedlich, manche waren angeregt, einige verwirrt, andere geschockt. Eine Person gab an, sich nicht sicher gefühlt zu haben in diesem Raum. Und das lasen wir später auch in den Feedbacks. Es wurde angegeben, dass Einzelne den Diskurs dominiert hatten und die "schweigende Masse" trotz gewaltvoller Sprache passiv blieb, nicht involviert wurde bzw. sich nicht eingebracht hat. In der Folge fühlten sich Menschen nicht sicher. Uns Kolleg*innen aus dem betterplace lab erstaunte auch, dass selbst wir alle zur stillen Masse am Rand gehört hatten und trotz teilweise großen Unmuts während des gesamten aktiven Teils nicht eingriffen. Da wir der Veranstaltung Raum gegeben hatten, hätten wir doch jederzeit sagen können: “Stop! Hier werden Grenzen überschritten. Hier sind einige unerträglich laut und aggressiv. Andere bekommen keine Bühne oder fühlen sich sogar bedroht."
Bei einem Nachgespräch bestätigt Ina Zukrigl-Schief die Wahrnehmung: “Es gab ganz viele Stimmen, die nicht reingekommen sind. Sie blieben außen vor.” Und sie hat recht, dass allein das schon aussagekräftig ist. Lesen wir auf Magdalena Schatzmanns Webseite, ist all das Teil von Deep Democracy: “Den Weg der Prozessarbeit zu beschreiten bedeutet meiner Erfahrung nach, mich dem Lebensprozess schlechthin hinzugeben: Jeder Tag birgt die Möglichkeit, Neues zu entdecken, meine Identität zu erweitern, mich durch Konflikte, Störungen und Überraschung verwandeln zu lassen, indem ich, ganz kurz gesagt, allem was passiert, mit ‚Anfängergeist‘ folge, statt mit vorgefassten Bildern und Konzepten meinen Alltag bewältigen zu wollen."
Und so wird auch die Facilitatorin selbst so stark Teil des Prozesses, dass Eskalationen höchstens innerhalb einer Rolle, die sie einnimmt, abgefedert werden. Dass sich der Raum im Prozess unsicher angefühlt hat, führt uns wieder einmal vor Augen, was uns noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen ist: Jede Veranstaltung braucht ein Awareness-Konzept.
Wer nach dem Ankündigungstext davon ausging, dass Deep Democracy alle Stimmen im Gruppenfeld gleichermaßen beachtet und zum Ziel hat, “nicht nur die bereits bekannten Rollen/Stimmen zu bearbeiten, sondern auch diejenigen, die gerade erst zutage treten oder (noch) nicht bewusst repräsentiert sind”, den*die konnte schon irritieren, dass die eher introvertierten Menschen zum Publikum der Performenden wurden. Das scheint nach Aussage der Kenner*innen der Methode oft zu passieren. Ausgeglichen werden kann das in der Reflexionsrunde nach dem aktiven Teil, denn freilich sind die passiven Teilnehmenden am Rand auch Teil des Feldes und übernehmen damit auch eine Rolle. Spätestens in der Reflexionsrunde sollten sie wirklich zu Wort kommen.
Jedenfalls ließ uns das Erlebte etwas verwirrt und mit Fragen zurück: Würden wir sowas wieder machen? Glauben wir, dass uns das weiterbringt? Passend dazu stellt eine der Teilnehmenden im Feedback fest, dass wir uns immer Quick-Wins wünschten, Veränderung jedoch ein Prozess sei. Die Person vermutet, dass uns die Übung in solchen performativen Praktiken fehlt. Die Facilitatorinnen bestätigen diesen Gedanken: “Die Prozessarbeit ist im Kern eine Erforschung von Erfahrungen, die in diesem Moment lebendig sind. Durch die Erforschung treten Stimmen und Dynamiken zutage. Der Prozess passiert aber immer im Moment. Dazu gehört auch, dass nicht für “Ausgewogenheit“ gesorgt wird. Damit ist Deep Democracy nicht primär ergebnisorientiert, sondern immer prozessorientiert. In einer Welt jedoch, in der wir bestrebt sind, lösungsorientiert zu arbeiten, ist Deep Democracy ein ungewohnter Ansatz.”
Welche Erfahrungen habt ihr mit Deep Democracy gemacht? Teilt eure Gedanken gern mit uns: colab@betterplace-lab.org
Die co:lab X-Reihe ist Teil des betterplace co:lab-Programm. Alle weiteren Informationen zum Programm findet ihr auf unserer Webseite.
Das Programm betterplace co:lab ist ein Projekt des betterplace lab. Als Förderer für den Anschub der zweiten Runde sind die Schöpflin Stiftung und die BMW Foundation angetreten.