Das Wort “wellbeing” löst immer noch Widerstand in mir aus. Es klingt wie eine Provokation. Ich sehe mich Smoothies trinken, Yoga machen und ausschlafen, während Krankenpfleger*innen in tiefer Erschöpfung über Neon-Flure huschen und junge, verzweifelte Aktivist*innen auf Booten Menschenleben im Mittelmeer retten. Dabei weiß ich doch, dass “wellbeing” nicht “wellness” ist. Keine privilegierte Flucht vor den Härten des Lebens, sondern meine Fähigkeit, mit den inneren Spannungen gesteigerter Komplexität und Unsicherheit achtsam und bewusst umzugehen.
So zumindest verstehe ich den Begriff im Kontext meiner Arbeit: Seit Oktober letzten Jahres leite ich beim betterplace lab das betterplace well:being-Programm. In einer Reihe von fünf aufeinander aufbauenden Workshops laden wir hauptberuflich und ehrenamtlich Engagierte in einen Erfahrungs- und Übungsraum ein, um Selbstfürsorge und Selbstkontakt zu trainieren. Als jemand, der sich im dritten Sektor jeden Tag für das Thema “wellbeing” einsetzt, blicke ich ernst und kritisch in den Spiegel, wenn es um die Sinnhaftigkeit dieser Angebote geht. Denn trotz meiner intensiven Auseinandersetzung erzeugt der Begriff “wellbeing” unangenehme Gefühle und Gedanken in mir. Wie kann ich mir herausnehmen, dass es mir und anderen gut gehen soll, während so viele leiden oder täglich bis an ihre Belastungsgrenze gehen, um dafür zu sorgen, dass das Leiden aufhört?
Wir wissen, dass wir uns die Sauerstoffmaske zuerst aufziehen sollen, bevor wir uns um unsere Nächsten kümmern. Doch bei “wellbeing” geht es nicht ums Überleben, um das Verhindern des nächsten Burn-Outs, um das “besser funktionieren” in einem dysfunktionalen System. In der deutschen Sprache gibt es keine richtig gute Übersetzung dieses Begriffs, der im internationalen Diskurs schon etablierter ist. Wohlergehen steht da im Online-Lexikon. Der Begriff beschreibt also einen Zustand, in dem es mir wohl ergeht. Aber was heißt das schon? Mir stellt sich die Frage nach dem guten Leben. Denn wie ist er möglich und zu rechtfertigen, dieser wohlige Zustand – in einer Pandemie, in einer globalen Klimakrise, in einem System der Ungerechtigkeiten?
Und schon kommen Scham und Schuld um die Ecke, denn ich weiß, dass ich viele Bedürfnisse der Bedürfnispyramide gerade erfüllt bekomme und mich daher selbst herausfordere, diese Frage überhaupt stellen zu dürfen. Mir geht es gut, materiell und sozial abgesichert, eingebunden in ein Netzwerk an Unterstützung.
Doch jahrelang fehlt mir der Zugang zu meiner Körperlichkeit und Emotionalität als Schlüssel zu einer ganzheitlichen Perspektive. Und es mangelt mir an Sprache, diese Aspekte meiner Wahrnehmung zu beschreiben. Ich lese über Transformation, Holokratie, Systemtheorie, Spiral Dynamics, Theorie U, Komplexität und den Anspruch mehr Informationen in die Problemlösung einzubeziehen. Wie genau dieses Einbeziehen gehen soll, bleibt jedoch eine Leerstelle für mich. Denn Körper und Gefühle sind oft kaum mehr als ein Nebensatz in den genannten Ansätzen, Werkzeuge einer überlegenen Rationalität.
Daher habe ich mich schon vor einer Weile auf die Suche gemacht und bin auf Selbsterfahrungsräume, Körperarbeit, Beziehungspraktiken, künstlerisch-immersive Performances und auf eine Reihe an Literatur von feministischen, antirassistischen Aktivistinnen gestoßen, die mir helfen diese Leerstellen zu füllen. Da ist beispielsweise Adrienne Maree Browns Pleasure Activism (2019), in dem die schwarze social justice-Aktivistin und Feministin argumentiert, dass der Grad zu dem wir Lust und Freude in unseren Körpern empfinden direkter Ausdruck der von uns als Bürger*innen empfundenen Freiheit ist. In Zart und Frei: Vom Sturz des Patriarchats (2021) setzt sich Carolin Wiedemann dafür ein, die binären Geschlechterordnung als eine in uns verkörperte Erfahrungen aufzulösen. Ich stolpere über Audré Lordes Vortrag The Use of the Erotic as Power, in dem die afroamerikanische Bürgerrechtlerin bereits 1978 fordert, dass wir Selbstkontakt und Selbstfürsorge brauchen, um uns den Herausforderungen der patriarchalen und rassistischen Gesellschaft zu stellen. Lorde beschreibt darin unseren Zugang zu einem inneren Maßstab und einer Kraft, in der wir uns verbunden und zufrieden fühlen, mit dem was wir tun. Ich verschlinge Soraya Chemalys Rage Becomes Her (2018), in der sie weibliche Wut als direkte Quelle feministischen Aktivismus befreit.
In diesen intersektoralen Perspektiven lerne ich “wellbeing” als Kompass zu verstehen, als zutiefst im eigenen Körper und den Emotionen verwurzelter Aktivismus, ergänzt durch die kluge Analyse des Kopfes. Dieses Verständnis von Selbstkontakt ist immer auf die Welt und das Außen gerichtet, aber adressiert gleichzeitig Unterdrückungsmechanismen unserer Körperwahrnehmungen und Gefühle sowie den Raubbau, den wir damit an uns selbst betreiben. Die Autorinnen bestärken mich darin, meine Gefühle und Körperwahrnehmungen als gleichberechtigte Quellen von Weisheit und Wissens zu nutzen.
In den fünf Einsteiger*innen-Workshops des betterplace well:being-Programms vermitteln wir daher eine Haltung zum Selbstkontakt, die immer auch darauf ausgerichtet ist, unser Wirken in der Welt zu stärken. Teilnehmende lernen sich körperlich, mental und emotional wahrzunehmen, erlebten Empfindungen einen Namen zu geben und durch fundierte psychologische Konzepte besser zu verstehen sowie schließlich durch dieses Verstehen ihre Entscheidungsfähigkeit und Zusammenarbeit mit anderen zu verbessern. Neugierig? Wie das ganze abläuft, könnt ihr hier im Erfahrungsbericht meiner Kollegin Lea nachlesen.
Das Programm betterplace well:being ist ein Projekt des betterplace lab und wird unterstützt durch die BKK∙VBU, pronova BKK und Salus BKK.
Foto: Calle Macarone | Unsplash