Reaktionsmuster auf den Krieg und was wir über unseren Umgang mit Krisen lernen können
Seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine sind nun einige Wochen vergangenen. Durch die durchgehende Berichterstattung in den Medien, eine Informationsflut von ungekanntem Ausmaß in den sozialen Netzwerken und nicht zuletzt die große Zahl der Menschen, die vertrieben sind und Deutschland erreichen, ist der Krieg in der Ukraine so präsent wie keine andere Katastrophe dieser Art in den letzten Jahrzehnten.
Viele von uns engagieren sich, um Leid und Not zu lindern. Wir versuchen zudem, alle die Ereignisse zu verdauen. Das passiert in erster Linie auf einer intellektuellen Ebene, in dem wir die neuen Informationen einzuordnen suchen. Dieser Prozess der historisch-politischen Betrachtung, in dem wir mehr Perspektiven einbeziehen als zuvor, ist folgerichtig. Wir glauben aber auch, dass es wichtig ist, diesen Betrachtungen eine psychologische Perspektive an die Seite zu stellen und unsere Gefühle zu betrachten. Wir sind vielleicht in Sorge über die Folgen dieses Krieges und wir haben möglicherweise auch Angst, weil wir nicht wissen, wie sich die Kampfhandlungen ausbreiten. Uns wird bewusst, dass wir nicht beurteilen können, welchen Wahrheitsgehalt Informationen haben. All das verunsichert uns.
Nach Beginn des Krieges haben wir gemeinsam mit New Work Needs Inner Work, vertreten durch Joana Breidenbach, Bettina Rollow und Anjet Sekkat, begonnen, in einem digitalen Raum Platz für unsere Reaktionen auf die Ereignisse bereitzustellen. Menschen, die sich stark engagieren, ebenso wie Aktivist*innen, die sich ausgerechnet in dieser so fordernden Situation blockiert fühlen, laden wir ein, einmal in der Woche einzuchecken und unseren Gefühlen, Körperwahrnehmungen und Gedankenschleifen Raum zu geben. Der Grundgedanke dabei ist, dass wir nur langfristig wirken können, wenn wir für unsere innere Stabilität sorgen.
"Es gibt zwei klassische Reaktionsmuster darauf, die ich beide in mir beobachten kann.” sagt Joana Breidenbach. “Das eine beschreibe ich als ‘Sicherheit durch Verleugnung’ oder Betäubung, wenn ich einfach weiterhin nicht an mich heranlasse, was passiert. Das andere Reaktionsmuster, das ich wahrscheinlich häufiger wähle, ist ‘Sicherheit durch Aktionismus’, eine Art von Engagement, die sich vor allem im Außen orientiert und wenig damit zu tun hat, was ich gerade beitragen kann oder will. Dieses Engagement dient vor allem der Entladung der Spannung in mir, die ich nicht aushalte. Beide Reaktionsmuster sind im Zweifel nicht zielführend, möglicherweise sogar schädlich für mich und/oder andere. ”
Bettina Rollow findet es wichtig herauszufinden, was Engagierte brauchen, damit es ihnen gut genug geht, um sich langfristig engagieren zu können. “Das scheint sich ja oft so ein bisschen auszuschließen in Situationen, in denen es ganz klar eine Hierarchie von Leid gibt.”, meint sie. “Mir geht es wesentlich besser als allen Menschen, die aus der Ukraine flüchten. Da könnte ich denken, ich muss mich jetzt total aufopfern und bis zum Exzess einbringen, weil ich in der privilegierten Position bin. Aber dann schlägt das um. Die, die beitragen, verausgaben sich derart, dass sie irgendwann selbst Unterstützung brauchen.”
Wichtig ist, laut Bettina Rollow, zu erkennen, was der Motor für den Aktivismus ist. “Werden wir gerade aktiv, um Spannung abzugeben und damit zu kompensieren? Oder tragen wir etwas bei, weil die Art des Engagements zu unserem gesunden Selbstausdruck gehört? Die Herausforderung im Kompensieren liegt darin begründet, dass wir in diesem Agieren oft nicht viel Wahl haben und damit nicht merken, wenn wir uns in dem Prozess übernehmen. Ich habe viele Menschen in meinem engagierten Umfeld (mich eingeschlossen) in den ersten Tagen nach Kriegsbeginn gesehen, die kaum noch geschlafen oder gegessen haben und nach wenigen Tagen komplett erschöpft waren und nicht mehr weiterhelfen konnten.”
In dem Webinar erforschen wir gemeinsam mit anderen, wie diese Motivation besser einzuordnen ist und stellen uns immer wieder neu die Frage: Wann trete ich in Aktion, weil ich in Empathie und Mitgefühl verwurzelt, meinen bestmöglichen Beitrag zu der aktuellen Krise leisten möchte? Und wann trete ich in Aktion, weil ich es nicht anders aushalte, mit dem umzugehen, was gerade ist? Es geht dabei nicht um eine richtige oder falsche Antwort auf die Frage, sondern um den Raum der Wahlfreiheit, der in uns entsteht, wenn wir diese Fragen an uns heranlassen und Anteile von Antworten auf beide Fragen erkennen können.
Eine Teilnehmerin des Checkins berichtet, dass der 1:1-Austausch in einem der Breakout-Räume ihr vor Augen geführt hat, wie groß der Konflikt sei, der in ihr entsteht, wenn sie den Drang verspürt, etwas tun zu wollen, aber nicht weiß, ob es genug, richtig und sinnvoll ist. Diese Ungewissheit aushalten zu können, sei nicht leicht, sagt sie.
Bettina Rollow hat dazu einen Rat: “Wenn Situationen komplex sind und vieles im selben Zeitraum passiert, wäre die beste Reaktion darauf, sich in Gleichzeitigkeit zu üben. Ich könnte dann wahrnehmen, dass es einen Teil in mir gibt, der hilft, weil er berührt ist. Und ein Teil verfällt in Aktionismus, weil ich nicht anders kann. Es gibt dann vielleicht noch einen Teil, der Angst hat und einen, der ganz normal seinen Alltag lebt und ganz andere Gefühle wie Freude erfährt usw. Ich beobachte in mir den Drang in eine Entweder-Oder zu fallen. Ich bin gestresst oder glücklich. Die verschiedenen Anteile in mir bewusst zu erleben, kann mir dabei helfen, mich auf die Krisen unserer Zeit zu beziehen. Meistens entstehen dann Spannungen in mir, weil ich eine Idee davon habe, wie es sein müsste. Was wäre, wenn ich akzeptiere, dass diese Spannung dazu gehört? Vielleicht kann ich dann aus dem Teufelskreis austreten, der mir nahelegt, wie es gerade richtig zu sein hätte und mir einen Moment von Ruhe und neuer Perspektive ermöglicht, zu sehen, was ich brauche und wie ich beitragen kann.”
Eine zweite Teilnehmerin erzählt, dass sie nach einer aufopferungsvollen Zeit vor ein paar Tagen zusammengebrochen ist. Sie meint, dass ihr Mitgefühl ihr Antrieb ist und sie in Aktion hält. Auch der Zusammenbruch gehöre dazu. Sie äußert Wut über diese Selbstfürsorge. Sie hat etwas anderes erwartet im Webinar, gehofft, dass es “um mehr als nur um mich selbst geht.” Sie spürt Aggression aufsteigen: “Ich bin in einer Ungnade mit denen, denen es gut geht.”
Anjet Sekkats Antwort ist recht unverblümt: “Wenn ich wütend auf unsere Privilegien bin und helfen gehe, dann ist da eine Entladung. Uns ist der Unterschied von Helfersyndrom und Engagement wichtig. Die Motivation zu helfen, weil ich mich nicht mit meiner Spannung auseinander setze, nütze letztendlich niemandem etwas. Man kann zusehen, wie die Teilnehmerin diese Worte in sich aufnimmt. Dann stellt sie erstaunt fest, dass sie mit ihrer Wut nun selbst zur “Kriegstreiberin” geworden ist, denn sie sei “jetzt im Krieg mit den Leuten, die Selbstfürsorger sind. Das ist das nächste Thema, das ich zu klären habe.” Sie bedankt sich für diese Erkenntnis.
Zu dem Checkin sind alle herzlich eingeladen, gleich, ob sie sich engagieren oder aktiv werden wollen und auch jene, die sich gerade überfordert und blockiert fühlen.
Menschen, die in den Kriegsgebieten Hilfe leisten, sind noch viel direkter mit den Auswirkungen des Krieges konfrontiert und bringen sich womöglich selbst in Lebensgefahr. Ukrainische und russische Aktivist*innen und Journalist*innen versuchen aus der Diaspora bzw. dem Exil ihre Arbeit fortzusetzen. Tausende Freiwillige unterstützen nach der eigenen Flucht an den Grenzen, an Ankunftsbahnhöfen und in Unterkünften. Für all jene bieten wir Mental First Aid an. Erfahrt mehr über dieses Angebot, teilt es gern und unterstützt diese Arbeit mit eurer Spende!
Sehr empfehlen können wir auch diesen Blogpost von Recipes for Wellbeing mit lauter Informationen für Menschen, die seelische Unterstützung benötigen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine.
Foto: bUm