Marit Kunis ist Direktorin der Städtischen Bibliotheken Dresden. Mit einigen Mitarbeiter*innen hat sie am organisationsspezifischen Workshop-Angebot im Rahmen unseres Projekts „Systemischer Umgang mit Desinformation“ teilgenommen. Im Nachgang haben wir sie zur Relevanz von Desinformation in der Bibliotheksarbeit, ihren Workshop-Erfahrungen und Zukunftswünschen befragt.
Wir sprechen heute über das Phänomen Desinformation. Mit welchen Schwierigkeiten müssen Sie da im Bibliothekskontext umgehen?
Bibliotheken sind der Ort der geprüften Informationen. Wir haben ein Lektorat und treffen bewusste Entscheidungen aus einem großen Markt an Medien, aus Büchern, Filmen und so weiter. Wir stellen also geprüfte Informationen zur Verfügung und versuchen die Medien auszuklammern, in denen Desinformation verbreitet werden soll. Wir kuratieren, genauso wie Museen. In den letzten Jahren kommen aber vermehrt Menschen zu uns, die versuchen, Desinformation in den Regalen zu verteilen – in Form von Flyern oder Büchern. Das bedeutet, dass wir genauer kontrollieren müssen: Was liegt da von uns aus und was hat jemand hingelegt, weil er oder sie findet, das müsste mal verteilt werden? Diese Besucher*innen nehmen sich einfach den Raum und unser Angebot und ergänzen es um ihr Angebot, ohne es mit uns abzusprechen.
Außerdem erleben wir in den letzten Jahren häufiger, dass Besucher*innen mit uns als Personal über Meinungen und persönliche politische Positionen ins Gespräch kommen wollen. Sie finden, wir müssten mal das „richtige” Buch lesen. Wir hinterfragen ihre Buchempfehlung natürlich und müssen dann entgegnen: Wir haben das recherchiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass dort Falschinformationen vermittelt werden. Die Corona-Pandemie hat einen ganz großen Push gegeben zu der Frage, was wahr und was falsch ist, wer richtig informiert und wer nicht. Öffentliche Bibliotheken sind neutralere Orte und bieten eine Vielfalt von Informationsmöglichkeiten auf Basis klarer Qualitätskriterien. Aber auch ein breites Spektrum hat Grenzen.
Wie erleben die Mitarbeiter*innen der Bibliotheken Desinformation im konkreten beruflichen Alltag?
Was sich in den letzten zwei Jahren verändert hat, ist, dass Mitarbeiter*innen im Service nicht mehr nur als Vertreter*innen der Institution gesehen werden, die gute Bücher empfehlen. Stattdessen werden sie teilweise auch auf ihre persönliche Meinung angesprochen: Wen wählen Sie denn am Sonntag? Stammtischparolen finden nicht mehr am Stammtisch statt, sondern man konfrontiert das Service-Personal damit und fordert persönliche Meinungen ein. Dahinter steht vermutlich das Vorurteil, dass das Personal in der Bibliothek nur eine bestimmte politische Haltung hat – was so definitiv nicht stimmt, denn wir sind auch da ein Spiegel der Stadtgesellschaft – und man denen mal erzählen muss, was eigentlich die Wahrheit ist.
Ein anderes Beispiel haben wir auch im Workshop thematisiert: Was mache ich, wenn jemand sich in der Bibliothek anmelden will und keinen Personalausweis oder Reisepass hat, sondern einen selbstgebastelten Ausweis, weil die Person alles andere nicht anerkennt? Wie reagiert man da? Theoretisch müsste ich sie anmelden, weil es super ist, wenn sie in die Bibliothek kommt und wir sie wieder auf den Pfad der geprüften Information zurückführen können, aber mit solch einem Dokument geht das nicht. In diesen Momenten ist es wichtig, dass die Mitarbeiter*innen gut reagieren können.
Seit bald zehn Jahren sagen mir Mitarbeiter*innen: Ich habe diesen Beruf nicht gewählt, um mich etwa für die Bundespolitik rechtfertigen zu müssen. Jetzt kommt ein Teil der Besucherschaft nur um zu provozieren, der Ton wird rauer. Wir sind in diesen Momenten eher Sozialarbeiter*innen, Mediator*innen oder Psycholog*innen als Bibliothekar*innen. Und da frage ich mich natürlich, was dahintersteht: Wo sind die Leerstellen in der Gesellschaft? Warum spricht sonst niemand mit diesen Menschen? Natürlich handelt es sich dabei nicht um den Großteil unserer Nutzer*innen, aber solche Situationen und Erlebnisse im Arbeitsalltag bleiben hängen.
Welche konkreten Bedarfe sehen Sie, um damit umzugehen? Was kann man Mitarbeitenden an die Hand geben, um handlungsfähig zu werden?
Für mich sind da zwei Schwerpunkte. Zum einen müssen das Wertesystem und das Leitbild der Institution klar sein: Welche Werte vertreten wir als Bibliothek und damit auch als Personal? Allerdings steht so ein Leitbild gern unbemerkt auf einer Webseite. Wir müssen es aber leben und uns auch in schwierigen Situationen aktiv darauf beziehen können. Dafür zu sensibilisieren ist mir wichtig.
Zum anderen widme ich dem Thema Kommunikationstraining eine hohe Aufmerksamkeit und Bedeutung. Wenn jemand provokant agiert und Kolleg*innen persönlich verbal angegriffen werden, befinden sie sich in einer Krisensituation. Und diese herausfordernde Kommunikation kann ich nicht im Moment der Krise üben, sondern die muss ich vorab schon mal durchgespielt haben, damit ich auch weiß: Wie merke ich, dass ausschließlich um der Provokation Willen kommuniziert wird? Welche Botschaften empfange ich auf der Sachebene und welche auf der Beziehungsebene? Wann hole ich mir Hilfe? Wann verlasse ich die Situation? Wo setze ich meine persönlichen Grenzen? Diese Situation habe ich im besten Fall in einer theoretischen Situation eines Workshops schon mal durchgespielt und vielleicht zwei Varianten ausprobiert. Das gibt mir auch Sicherheit in der Sprachwahl, im Ton, in der nonverbalen Kommunikation. Hier sehe ich einen ganz großen Bedarf – nicht nur im beruflichen Kontext.
Besonders wichtig ist mir die mentale Gesundheit meines Teams, jede*r einzelnen Mitarbeiter*in. Ziel ist eine erhöhte Sicherheit im Umgang mit solchen Situationen und das Sammeln entsprechender Erfahrungen und Kompetenzen im geschützten Raum eines Seminars.
Was hat Ihnen und den Mitarbeiter*innen der Workshop zum „systemischen Umgang mit Desinformation“ konkret gebracht?
Um das Wissen um die Vielfalt dieses Themas zu erweitern ist der systemische Ansatz genau richtig. Deshalb war es zum Beispiel hilfreich, dass wir auch selbst ein Meme-Bild gestaltet haben, um zu erfahren, wie Desinformation im digitalen Bereich produziert wird und wie es im Kleinen, vielleicht auch nur im Privaten anfängt.
Für uns war es besonders befruchtend, dass wir das Konzept für den Workshop anpassen und stärker auf Desinformation in der verbalen Kommunikation fokussieren konnten. Diese Flexibilität war auch eine große Leistung der Workshop-Leitung, und so konnten wir wirklich voneinander lernen.
Die Mitarbeiter*innen, die bislang teilgenommen haben, sind hoch sensibilisiert für das Thema und wirken nun als Multiplikator*innen ins Team. Mir ist aber auch klar geworden, dass wir uns dem Thema weiter und kontinuierlich widmen müssen, bis alle Mitarbeiter*innen einen guten Kenntnisstand dazu haben.
Was wünschen Sie sich generell für den Umgang mit Desinformation?
Zum einen wünsche mir wirklich ein breites Interesse an diesem Thema. Denn wir sind selbst der Gefahr ausgesetzt, Desinformation weiterzugeben, wenn wir einer Nachricht vertrauen, ohne sie zu hinterfragen. Wir sollten also noch besser darin werden, Informationen zu prüfen.
Zum anderen wünsche ich mir, dass wir einander besser zuhören und auch formulieren können, was wir denken. Das heißt nicht, dass am Ende eines Gespräches alle einer Meinung sind. Allerdings argumentieren wir heute oft kommunikativ zu schlecht, und zu viele Menschen erfahren einen Moment ungeteilter Aufmerksamkeit zu selten. Ein erster Schritt dazu ist zum Beispiel die Frage: Was ist denn die Quelle deiner Nachricht? Wenn dieser Frage ein offener Austausch mit nachvollziehbaren Gedanken folgt, können wir Desinformation gemeinsam auf die Schliche kommen.
Das Projekt „Systemischer Umgang mit Desinformation“ wird gefördert vom BMFSFJ im Rahmen von Demokratie Leben!