Das Narrativ um die digitale Transformation liest sich meistens so: all unsere Leben werden von der Digitalisierung beeinflusst, es gibt nahezu keinen Bereich – ob privat oder beruflich – der nicht irgendwie von den Veränderungen der schönen neuen Welt tangiert wird. Doch Zahlen, die den Stand um die digitale Gesellschaft in Deutschland bemessen, schreiben eine andere Geschichte: Noch immer zählt ein Fünftel der Bevölkerung zu den “Digital Abseitsstehenden”. Die Möglichkeiten der Digitalisierung werden bisher nicht umfassend bzw. nicht für alle Gruppen ausgeschöpft und bleiben somit hinter ihrem inklusiven Potential zurück.
Der AWO Bundesverband wendet sich diesem wichtigen Thema zu: In einem Modellprojekt, das von der Aktion Mensch Stiftung gefördert wird, sollen inklusive Partizipations- und Engagementangebote insbesondere für benachteiligte Zielgruppen (weiter-)entwickelt, erprobt und skaliert werden. Zu Beginn des Projekts wurden wir mit einer Feldanalyse zu digital-gestützter Teilhabe betraut und betrachteten das Thema unter der folgenden Forschungsfrage:
Welche Möglichkeiten sowie wichtige Akteur*innen gibt es in den Bereichen digitaler bzw. digital unterstützter Teilhabe?
Im ersten Schritt haben wir den Arbeitsbegriff “digitale Teilhabe” konzeptionalisiert. Bezugnehmend auf unsere mehrjährige Arbeit im Bereich digitale Demokratieförderung ergänzten wir die Kategorien Befähigung, Teilhabe, Transparenz in der hiesigen Forschung um die Kategorie Verbundenheit. Die Themenlandschaft dahinter haben wir mit den folgenden Clustern erschlossen: Bürger*innenbeteiligung, Open Government, Engagementplattform, Nachbarschaftsplattform, Dialogplattform, Open Education, Crowd-Funding, Gesundheits- und Sozialberatung, Soziale Teilhabe und Infrastruktur. Zu diesen thematischen Clustern haben wir Best Practice Beispiele recherchiert, die entweder ein neue Wege zur Zielgruppenaktivierung gehen, ein innovatives Angebot für spezifische Zielgruppen entwickelt haben oder besondere Reichweite oder auch Skalierungspotential aufweisen.
Elf Organisationen fragten wir in qualitativen Interviews, welche Bedeutung sie Teilhabe in einer digitalen Welt beimessen, welche Potentiale die Digitalisierung für Teilhabe bereit hält und inwiefern ihr eigenes Angebot einen Beitrag zu gesellschaftlicher Teilhabe leistet. Auch sammelten wir Erkenntnisse über ihre Zielgruppe und die Verbreitung, die Usability (explizit nach Barrierefreiheit) sowie die Verschränkung digitaler und analoger Angebote.
Folgende Handlungsempfehlungen, die wir aus unserer Forschung ableiten, schlagen wir dem AWO Bundesverband vor. Sie können jedoch auch generell als Orientierung dienen zur Entwicklung von Technologie, die die inklusiven Potentiale voll ausschöpfen möchte.
- Identifikation der Zielgruppe ist maßgeblich: Nachdem strategische Klarheit über die anvisierte Zielgruppe erlangt ist, gilt es, diese auch jenseits der eigenen Annahmen zu kategorisieren und zu verstehen. Innovationsmethoden können dabei neue Erkenntnisse und Impulse liefern: So bietet etwa der Design Thinking-Methodenkoffer durch das Persona-Konzept eine Annäherung an die Zielgruppe. Jedoch sollte dies als Ergänzung verstanden werde zu Methoden, die einen Zielgruppenzugang auch abseits der eigenen Perspektive erlauben (zum Beispiel die Segmentierung der Zielgruppe durch das Führen von Interviews nach der Segments-of-One-Methode aus dem Marketing).
- Design and test with the user: Bei der Gestaltung eines Angebots ist die Zielgruppe schon bei der Konzeptentwicklung mit einzubinden, zum Beispiel durch Gespräche, Beobachtungen und Co-Kreation. Doch nicht nur zu Beginn, sondern auch während des Projektzyklus ist es hilfreich, die Zielgruppe einzubeziehen. Mit den Nutzer*innen zusammenzuarbeiten bedeutet, Lösungen gemeinsam zu erstellen und dabei Feedback kontinuierlich zu sammeln und einzuarbeiten. Die Principles for Digital Development aus der internationalen Zusammenarbeit können wertvolle Handlungsanleitung geben.
- Diverses Entwickler*innen-Team: Je mehr Perspektiven an einer Lösung arbeiten, desto eher wird die Lösung für eine diverse Gruppe nutzbar sein. Schließlich werden Tech-Lösungen – selbst wenn man die Zielgruppe an den relevanten Stellen mit einbezieht – im ersten Schritt aus der Perspektive der Entwickler*innen gebaut. Um auch bei der (Weiter-)Entwicklung des Codes, der sich später in der Funktionalität des Tools manifestiert, Multiperspektivität zuzulassen, sollte ein Entwickler*innen-Team mit diversen Hintergründen zusammengestellt werden. Dies beeinflusst nicht nur die Lösung an sich, sondern auch das Umfeld, in der diese Lösung entsteht – laut Forschung sind vielfältige Teams erfolgreicher.
- (Lokalen) Kontext mit einbeziehen: Lokale Gegebenheiten und die Kontexte können für den Einsatz und den Erfolg von digitalen Anwendungen entscheidend sein. So kann ein Tool, das für einen urbanen Kontext gebaut ist, dort funktionieren, weil es von der Frequenz oder Dichte der Nutzung lebt. Im ländlichen Raum müssen crowdsgesourcte Inhalte beispielsweise eine längere Halbwertszeit überstehen, um ihre Nutzung zu entfalten. Dort sind unter Umständen Angebote notwendig, die in Ballungsräumen durch ein Überangebot an Möglichkeiten bereits abgedeckt werden. Insbesondere lokales Wissen sollte für die Zuschneidung eines Angebots einbezogen werden.
- Verbreitung des Tools ist zentrale Herausforderung: Der Erfolg einer Anwendung hängt nicht nur am Design der Lösung selbst, sondern auch an deren Verbreitung. Ein Kommunikationskonzept, das Maßnahmen auf allen relevanten Kanälen (je nach Zielgruppe von Sozialen Medien bis hin zum Lokalblatt) und in entsprechender kanal-gerechter Sprache (auch: Web oder Mobile) beinhaltet, kann entscheidend sein. Hierbei lohnt es sich, neueste Studienerkenntnisse (zum Beispiel die Studien von Bitkom oder Vaunet) zur Mediennutzung zu Rate zu ziehen und die Maßnahmen entsprechend auf das Medienverhalten der Zielgruppe abzustimmen.
- Blended Ansätze: Die Verschränkung von digitalen und analogen Angeboten ist essentiell, damit ein digitales Angebot erfolgreich sein kann. Ein digitales Tool sollte stets eine Übersetzungsleistung in analoge Formate und Andockung an reale Strukturen erfahren. Es sollte ein integrierter Ansatz geschaffen werden, der in der Lebensrealität der Nutzer*innen Fuß fassen kann. Ein integrierter Ansatz hat zudem höhere Wahrscheinlichkeit, in der Lebensrealität der Nutzer*innen anzukommen. Auch für das Erreichen von Zielgruppen, die bisher eher analogen Formaten Vertrauen schenkten, ist eine attraktive Mischung aus digitalen und analogen Angeboten wichtig.
Die Studie kann hier heruntergeladen werden.